Der engagierte Sozialpolitiker und Honorarprofessor, Dr. h. c. Josef Stingl, wurde als Sohn eines Bäckermeisters am 19. März 1919 in Maria-Kulm im Egerland geboren. Am humanistischen Staatsgymnasium in Eger bestand er 1938 das Abitur. Unmittelbar nach seinem Abitur wurde er zur Wehrmacht als Fahnenjunker eingezogen. Als Flugzeugführer und Oberleutnant der Luftwaffe mit beinahe 200 Feindflügen erlebte er den gesamten Zweiten Weltkrieg mit. Bei Kriegsende geriet er kurzzeitig in Schleswig-Holstein in britische Gefangenschaft. Seine Rückkehr ins Egerland zu seiner Frau Dorothea, geb. Behmke, die er 1943 geheiratet hatte, und seinen beiden Kindern, blieb eine kurze Episode. Da ihm als ehemaligem Offizier die Verhaftung drohte, floh er mit seiner Familie im Winter 1945 nach Berlin, wo er sich eine neue Existenz aufbauen musste. Er war zunächst als Bauarbeiter beschäftigt, bevor er 1947 in ein Baubüro wechselte und von 1948 bis 1952 als Angestellter einer Wohnungsbaugesellschaft Häuser und Wohnungen verwaltete. In Abendkursen der von Otto Suhr wiedergegründeten „Deutschen Hochschule für Politik“ studierte er neben seiner vollen Berufstätigkeit von 1949 an politische Wissenschaften. Als ehemaligem Offizier war ihm ein Studium an der Humboldt-Universität verwehrt. 1951 legte er seine Diplomprüfung mit einer Arbeit „Die Entwicklung einer ‚pressure-group‘ in der deutschen Beamtenschaft“ ab. Seiner Hochschule blieb er nach seinem Examen zunächst als wissenschaftlicher Assistent noch für zwei Semester verbunden; später, von 1955 bis 1971, war er Lehrbeauftragter für Politische Wissenschaften am inzwischen in die Freie Universität Berlin integrierten Otto-Suhr-Institut. Von 1952 bis 1968 war er als Referent für Sozialpolitik bei der Industrie- und Handelskammer Berlin beschäftigt.
Nach dem Krieg schloss sich Stingl der CDU an. Ab 1952 war er Mitglied des Landesvorstandes Berlin und ab 1956 stellvertretender Landesvorsitzender. Von 1964 bis 1969 hatte er den Vorsitz des Landesverbandes Oder-Neiße der CDU/CSU inne. Dem CDU-Bundesvorstand gehörte er von 1964 bis 1973 an. Gleichzeitig war er Vorstandsmitglied der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft. Seit 1953 war Stingl Mitglied des Deutschen Bundestags. Der in der katholischen Soziallehre verwurzelte Politiker wurde bald Sozialexperte seiner Fraktion. 1963 wurde ihm der Vorsitz des Arbeitskreises Arbeit und Soziales der CDU/CSU Fraktion übertragen. Von 1905 bis 1973 war er außerdem Vorsitzender des Ausschusses für Sozialpolitik der CDU. Präsident der Arbeitsverwaltung wurde Stingl am 2. Mai 1968. Er verstand seine Arbeit als überparteiliche politische Aufgabe. Das brachte ihm allgemeine Anerkennung. Sein politisches Gewicht setzte er z. B. im März des Jahres 1978 ein, als er erfolgreich im Streik zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern im Druck- und Verlagsgewerbe vermittelte. Wegen der Bedeutung der Bundesanstalt für Arbeit auch in der internationalen arbeitsmarktpolitischen Zusammenarbeit war Stingl ein geschätzter Gesprächspartner über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland hinaus.
Der CDU blieb er bis an sein Lebensende stets eng, aber wo es ihm geboten schien, auch kritisch verbunden. Als er keine führende Position im Gefüge der Partei mehr innehatte, wechselte er 1974 aufgrund seines Wohnsitzes in Bayern zur CSU, was aber keineswegs mit einer neuen parteipolitischen Präferenz zu tun hatte, wie vielfach kolportiert wurde, sondern ein ganz normaler Vorgang innerhalb der Unionsparteien war.
Nach dem Tod seiner ersten Frau (1986) heiratete er 1988 die Leiterin des Arbeitsamts in Neuwied, Elvira Lougear, zog nach Leutesdorf am Mittelrhein um und wechselte wieder zur CDU. Er gehörte ihrem „Ältestenrat“ an und amtierte von 1997 bis 2003 als dessen Vorsitzender – nach Eugen Gerstenmaier, Karl Carstens und Walter Wallmann. Die Tätigkeit an der Spitze der Nürnberger Bundesanstalt war zweifellos der Höhepunkt seiner beruflichen Karriere. Er verstand sein Amt vor allem als Auftrag und Pflicht zu helfen und war in unbestechlicher Überparteilichkeit Anwalt der Arbeitslosen und derer, die es auf dem Arbeitsmarkt besonders schwer hatten.
Auch nach seinem Ausscheiden ließ er sich als Mitherausgeber der Forschungsberichte der Bundesanstalt weiterhin mit den Zahlen seines früheren Amts versorgen, so dass er immer bestens informiert war. Seine Fachkompetenz war gefragt: Jahrelang hielt er Vorlesungen an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, die ihm 1979 die Ehrendoktorwürde verlieh; er war Ehrensenator der Universität Mannheim und seit 1984 Honorarprofessor an der Universität Bamberg, wo er das Fachgebiet „berufliche Weiterbildung“ vertrat. Obwohl er von seinem Amt stets besonders gefordert wurde, bewies er weit darüber hinaus ein vielfältiges Engagement: als Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, wo er lange Jahre Vorsitzender der Kommission „Wirtschaft und Gesellschaft“ war, als Vizepräsident des Deutschen Katholikentags 1964, als Mitglied des Präsidiums des Familienbundes der Deutschen Katholiken, als Mitglied der Gemeinsamen Synode der Bistümer der Bundesrepublik Deutschland (1971–1975), als Präsidiumsmitglied des Sudetendeutschen Rats und nicht zuletzt als Vorsitzender der Ackermann-Gemeinde.
Diese Arbeit verstand er immer als Dienst an und für die Kirche in Deutschland und als Aufgabe der Verständigung und Versöhnung mit den ostmitteleuropäischen Völkern, vor allem den Nachbarn in Böhmen, Mähren und in Schlesien. Mit zahlreichen Ehrungen und Auszeichnungen wurde das breite Spektrum Stingls gewürdigt. 1972 wurde Stingl vom italienischen Staatspräsidenten mit einer hohen Zivilauszeichnung, dem Orden „Grande ufficiale nell’ordine al merito della republica italiana“ ausgezeichnet. Er war außerdem Träger des Bayerischen Verdienstordens, den er 1971 erhielt, und des Großen Bundesverdienstkreuzes, das er seit 1974 hatte. Im selben Jahr ernannte ihn Papst Paul VI. zum Komtur mit Stern des Gregorius-Ordens. Er war weiterhin u.a. Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern und Schulterband, des Europäischen Karlspreises der Sudetendeutschen Landsmannschaft und des Großkreuzes des päpstlichen Gregoriusordens.
An seinem 85. Geburtstag, dem 19. März 2004, ist er in Leutesdorf verstorben.
Bundesarbeitsminister Walter Arendt hat dem Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit, Josef Stingl, das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland überreicht. Der Minister unterstrich dabei, dass Stingl das moderne Bild der Bundesanstalt als wirkungsvolles Instrumentarium aktiver und vorausschauender Arbeitsmarkt-und Beschäftigungspolitik mitgeprägt habe. Stingl, der aus dem Sudetenland stammt, ist Vorsitzender der Ackermann-Gemeinde, gehörte dem Bundesvorstand der Sudetendeutschen Landsmannschaft an, war als CDU-Abgeordneter lange Jahre Sozialexperte seiner Fraktion und war in dieser Zeit auch Vorsitzender des Sozialausschusses des Bundes der Vertriebenen. Ganz besondere Verdienste hat sich Stingl der Schaffung der Fremd-, und Auslandsrenten-Gesetzgebung erworben.
1976 wurde Stingl Ehrensenator der Universität Mannheim, und im Jahre 1979 verlieh ihm die Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer den akademischen Grad des Doktors der Verwaltungswissenschaften ehrenhalber (Dr. rer. publ. h.c.). Hiermit würdigte sie die hervorragenden Verdienste Stingls um die Förderung der verwaltungswissenschaftlichen Forschung und Ausbildung.
Das Grosse Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband wurde durch Bundesarbeitsminister Norbert Blüm an Josef Stingl überreicht.
Tabellarischer Werdegang des Josef Stingl:
1929-1931 Mitglied der katholischen Jugendbewegung „Bund Staffelstein“
1938 Abitur
1939-1945 Kriegsdienst, zuletzt Oberleutnant der Luftwaffe
Dez. 1945 Vertreibung aus der Tschechoslowakei
1945-1947 Bauarbeiter in Berlin
1947 Eintritt in die CDU
1947-1952 Angestellter einer Wohnungsbaugesellschaft
1949-1951 Studium an der Deutschen Hochschule für Politik neben dem Beruf, Abschluss Diplom
1952-1968 Referent für Sozialpolitik an der IHK Berlin
1953-1968 Mitglied im Deutschen Bundestag
1955-1970 Lehrbeauftragter an der FU Berlin (Otto-Suhr-Institut)
1962-1968 Vorsitzender des Arbeitskreises IV (Sozial- und Gesellschaftspolitik) der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag
1964-1969 Vorsitzender des Landesverbandes Oder-Neiße der CDU/CSU
1964-1973 Mitglied des CDU-Bundesvorstands und des Vorstands der Sozialausschüsse der christlich-demokratischen Arbeitnehmerschaft
1965-1973 Vorsitzender des CDU-Bundesausschusses für Sozialpolitik
1968-1984 Präsident der Bundesanstalt für Arbeit
1970-1984 Lehrbeauftragter an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer und
1970-1991 Bundesvorsitzender der Ackermann-Gemeinde
1977-2002 Gründungsvorsitzender des Internationalen Instituts für Nationalitätenrecht und Regionalismus (INTEREG)
1983-1990 Honorarprofessor an der Universität Bamberg
1997-2003 Vorsitzender des Arbeitskreises für Geschichte und Wirksamkeit christlich-demokratischer Politik
Ehrungen des Josef Stingl:
1984 Großes Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband
1984 Europäischer Karlspreis der Sudetendeutschen Landsmannschaft
1984 Heinrich-Brauns-Preis
1984 Großkreuz des päpstlichen Gregoriusordens
1982 Bayerische Staatsmedaille für soziale Verdienste
1979 Großes Bundesverdienstkreuz mit Stern
1979 Ehrendoktorwürde der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
1976 Ehrensenator der Universität Mannheim
1974 Großes Bundesverdienstkreuz
1972 Großoffizier des Verdienstorden Italiens
1971 Bayerischer Verdienstorden
1943 Deutsches Kreuz in Gold als Oberleutnant
1942 Ehrenpokal für besondere Leistungen im Luftkrieg